Roman "Beutewelt I - Zukunft in Ketten" (Leseprobe)

Automatisiertes Gerichtsverfahren (S. 25-33)


Obwohl es erst August war, kam dieser Morgen Frank Kohlhaas ausgesprochen kalt und dunkel vor. Sein Hals schmerzte und er hatte leichte Kopfschmerzen vom Schnaps des gestrigen Abends. Der örtliche Justizkomplex war über eine Stunde Fußmarsch von seinem Wohnblock entfernt, aber der Bürger dachte sich, dass es eigentlich nicht verkehrt sein könnte, ein paar Meter an der mehr oder weniger frischen Luft zu laufen. So konnte er wenigstens die Auswirkungen seines Katers bekämpfen.
Hastig schlang er ein paar Scheiben Toastbrot hinunter, schluckte den auflösbaren Kaffee hinunter und betrachtete das Etikett auf dem Plastikbehälter des Kaffeepulvers. „Globe Food“ stand darauf und eine Weltkugel war zu sehen. Darüber war eine Pyramide abgebildet, in deren Mitte ein großes Auge prangte. Über allem stand die Losung: „Food for the people!“.
„Komisches Symbol!“ murmelte Frank in seinen Stoppelbart hinein.
Es war ihm bisher noch nie aufgefallen, obwohl er seit Jahren nur noch in den billigen „Globe Food“ Supermärkten, die ganz Berlin dominierten, einkaufte. Dann flog der Gedanke wieder so schnell weg, wie er ihm in den Kopf gekommen war…
 
Die ungewöhnliche Kälte ließ Frank erschauern. Ein kühler Luftzug zog durch das noch dunkle Treppenhaus, was sogar den Geruch fauliger Eier kurzzeitig hinwegfegte. Vor ihm ging ein Nachbar, den Frank meinte, schon einmal gesehen zu haben, die Stufen hinab. Er brabbelte irgendetwas, dass sich wie „Morgen!“ anhörte, aber Frank war sich nicht sicher. Der Angeklagte lief langsam und schwankte leicht als er seinen Wohnblock hinter sich ließ. Er blickte kurz auf den Spielplatz im Hof und betrachtete einige Kinder, die in einer ihm unverständlichen Sprache mit schrillen Stimmen schrien. War es türkisch? Oder arabisch?
 
Als die Uhr 7.43 anzeigte, konnte er bereits die Konturen des für ihn zuständigen Justizkomplexes von weitem erkennen. Es war ein großes rotes Gebäude mit Hunderten von Fenstern und über 30 Etagen. Davor befanden sich Dutzende von Gerichtszellen, eine davon war für ihn bestimmt.
Die Kammern, in denen man seinem automatisierten Gerichtsverfahren beiwohnen konnte, waren aus einem gräulich schimmernden Metall angefertigt und etwa vier mal vier Meter groß. So schätzte es Frank zumindest aus der Ferne ein. Drei oder vier weitere Bürger warteten bereits davor, dazwischen einige Polizeibeamte. Er wurde langsam unruhig. Vielleicht war diese Anhörung doch unangenehmer als er sich anfangs gedacht hatte.
Nun galt es, zuerst ein elektrisches Gatter zu passieren, das von einem ergrauten Pförtner in einem kleinen Wachhäuschen behütet wurde. Dieser winkte Frank sofort heran als er ihn sah. „Herkommen!“ rief er.
Der junge Mann hastete vorwärts und stellte sich vor den Eingang der Wachstube.
„Scanchip!“ sagte der Pförtner und hielt ein lasergesteuertes Ablesegerät in der Hand. Wortlos zog er Frank den Scanchip aus der Hand, ohne ihn auch nur anzusehen und sagte nach einem kurzen „Biep“ seines Codelesers: „Gerichtszelle 4/211! Beeilen Sie sich! Wir haben gleich 8.00 Uhr! Wenn Sie zu spät kommen, wird es nur teurer für Sie!“
Franks Herz fing an schneller zu pochen. Ängstlich begann er, die Gerichtszellen abzusuchen, um dort seine Nummer zu finden. Andere Angeklagte, die ebenfalls nicht gerade fröhlich wirkten, musterten ihn mit einigen kurzen Blicken. „Reihe 4! Scheiße! Ich muss mich beeilen...211…Mist“ jammerte Frank, den sein Blick auf die Uhr immer nervöser machte.
Es waren nur noch zwei Minuten bis zum Beginn seiner Anhörung. Er fing an zu rennen und mit rasendem Herzen und stärker werdenden Kopfschmerzen erreichte er schließlich seine Gerichtszelle gerade noch vorschriftsmäßig.
Noch außer Atem empfing ihn schon eine elektronische Frauenstimme: „Willkommen Bürger 1-564398B-278843 bei Ihrem automatisierten Gerichtsverfahren! Bitte geben Sie jetzt Ihre Angeklagtennummer in das Display ein und drücken Sie auf „OK“!“
Frank zog seinen Scanchip aus der Hosentasche, tippte sich gehetzt durch sein Message-Menü und versuchte, die Angeklagtennummer korrekt wiederzugeben. Mittlerweile überfiel ihn fast eine selten gekannte Panik. Er schaute sich um.
„Eigentlich muss ich nicht in diesen Blechkasten, da ich nichts getan habe.“ dachte er sich, doch schon öffnete sich die Tür.
Franks Hände waren auf einmal verschwitzt, er atmete lauter. Vor ihm tat sich ein schwach beleuchtetes metallisches Loch auf, welches ihn zum Vortreten aufforderte.
„Treten Sie ein, Bürger 1-564398B-278843 ! Ihr Verfahren läuft bereits!“ tönte es aus einem Lautsprecher an der Decke der halbdunklen Kammer. Frank Kohlhaas wusste, dass er jetzt in die Zelle hinein musste und sich nicht weigern konnte. Immerhin war es eine offizielle behördliche Anweisung und da gab es niemals und in keinem Fall eine Diskussion oder gar eine Ausnahme. Er machte einen Schritt vorwärts und seine Knie fühlten sich mit jeder verstreichenden Sekunde weicher an. Ein Bildschirm blitzte auf, das automatisierte Gerichtsverfahren gegen den theoretischen Täter Frank Kohlhaas nahm seinen Lauf.
 
In großen und leuchtenden Lettern waren auf dem Bildschirm die Tatvorwürfe zu lesen:
 
 
-          Massive Störung des Betriebsfriedens
 
-          Theoretische schwere Körperverletzung
 
Frank schluckte und stieß einen heftigen Schwall Luft aus. Die unheimlich wirkende Frauenstimme, so freundlich wie ein unbemerkter Virus, begann mit den Ausführungen. Es folgten eine ausführliche Schilderung des Tathergangs, die Auflistung von Zeugen, zusätzliche Sub-Anklagepunkte wie „subversive Aussagen am Arbeitsplatz“ und einiges mehr.
Der junge Mann sagte mehrere Minuten nichts, aber man hatte ihn ja auch nicht gefragt, lediglich die Computerstimme redete, führte aus und klagte an.
Die ehemaligen Kollegen Schmidt, Adigüzel und Nyang hatten bestätigt, dass der Angeklagte mehrfach das Mitsingen des „One-World-Songs“ verweigert hatte und den Text am 02.04.2027 sogar als „Schwachsinn“ bezeichnet hatte.
Produktionsüberwacher Sasse hatte zu Protokoll gegeben, dass die aggressive Mimik und der Gebrauch von sehr starkem Vokabular bei der Auseinandersetzung in der Fabrik auf eine „ausgeprägte Aggressionsstörung und einen Hang zum unnötigen Hinterfragen unbedingt gerechtfertigter Anweisungen“ hindeuteten. Der Leiter des Produktions-komplexes hatte dies bestätigt. Es folgten weitere Details, Gesetzesvorschriften und Vorschriften für erweiterte und tiefergehende Anweisungen im Bezug auf die Aufstellung und Neudefinition von Vorgaben – und deren mehr.
 
„Sei froh, dass du mein Vorgesetzter bist, sonst würde ich dir deine Fresse polieren!“
 
Die Absicht, den Vorgesetzten zu schlagen, war hier in den Augen des automatisierten Gerichts mehr als eindeutig bewiesen. Der Unterschied zwischen einer so formulierten Absicht und einer tatsächlich ausgeführten Tat war laut der modernen Gesetzesauffassung, die sich stark an Psychologie und Statistik orientierte, relativ gering. Weiterhin war damit die Wahrscheinlichkeit, diese Tat eines Tages auch real zu begehen, da ja die Absicht klar formuliert worden war, gewaltig angestiegen (vgl. „Gesetzesentwurf zur Abgleichung von tatsächlichem, theoretischem und zukünftig wahrscheinlichem Verhalten vom 02.10.2020, Aktencode: V-LUN-36777192934457656-Z, (89)“).
 
Frank glotzte wie ein verdutztes Rind, das gegen einen elektrischen Zaun gelaufen war, auf den Bildschirm. So schnell konnte er gar nicht mitdenken, wie ihn dieses Computerprogramm zu einem potentiellen Störfaktor, ja zu einer regelrechten Gefahr für die auf Freiheit und Menschlichkeit basierende Ordnung des weltweiten Systems machte.
Nach einer ganzen Stunde waren die Ausführungen schließlich zu Ende. Es erschien ein neuer Menüpunkt auf dem Bildschirm. Die Frauenstimme mit dem elektronischen Beigeschmack las die Sätze freundlicherweise zusätzlich noch einmal laut und frostig-freundlich vor:

„Wenn Sie die Anklagevorwürfe abstreiten, klicken Sie auf NEIN!“

 „Wenn Sie die Anklagevorwürfe zugeben, klicken Sie auf JA!“

Bürger 1-564398B-278843 zögerte, kniff die Augen zusammen und versuchte seine Gedanken halbwegs zu ordnen.
„Was soll dieser Scheiß? Ich habe nichts, überhaupt nichts Schlimmes getan. Dieser ganze Mist hier ist ein schlechter Witz!“ fauchte Frank durch die Gerichtszelle.
Am liebsten hätte er diesen widerlichen Bildschirm eingetreten. „Ich stimme mit NEIN! Ich habe niemanden verletzt oder so….Nein! Ich klicke verdammt noch mal auf NEIN!“ schrie er plötzlich.
Der Anklagte hämmerte erregt auf die Tasten vor sich und wählte NEIN.
Es dauerte etwa eine halbe Minute. Der Computer arbeitete. „Loading…“ stand in leuchtenden Buchstaben auf dem Bildschirm. Frank fühlte sich für eine Sekunde irgendwie erleichtert.
„Jetzt weiß das Scheißding, dass ich unschuldig bin. Ich habe mich klar ausgedrückt: NEIN! schoss es ihm blitzartig durch den Kopf.
Er lächelte, ein wenig erleichtert, die Anspannung schwoll für die Zeit eines Wimpernschlages ab. Dann bekam er die Antwort des automatisierten Gerichtscomputers mit metallischem Klang und grausam kombinierten Buchstaben auf dem leuchtenden Bildschirm entgegen geschleudert:
 
„Angeklagter, Sie haben NEIN gewählt! Damit streiten Sie den Anklagevorwurf ab und unterstellen in diesem Kontext unserem von humanistischen Prinzipien geleiteten Rechtssystem, diese nicht zu beachten! Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass die Auswahl des Menüpunktes NEIN grundsätzlich zu einem erhöhten Strafmaß führt, da es die Uneinsichtigkeit des Angeklagten verdeutlicht...“
 
IHR URTEIL WIRD GELADEN……LOADING……
 
Der junge Mann stockte, seine breiten, dunklen Augenbrauen schoben sich nach oben und seine Augen öffneten sich immer weiter. Sein Mund wurde zu einem staunenden und schockierten Loch, aus dem ein Tropfen herausfiel.
Frank Kohlhaas` Verstand schien blockiert, kurzzeitig auf „Standby“ gestellt. Die Daten waren zu groß und zu schrecklich, um von seinem Gehirn anständig verarbeitet werden zu können. Der biologische Computer unter seiner Schädeldecke schien erst einmal abzustürzen, er hängte sich einfach auf.
Dann schlug ihm der hämisch leuchtende Bildschirm in Zelle 4/211 mit noch größerer Dreistigkeit ins Gesicht. Das Urteil wurde verkündet:

„Bürger 1-564398B-278843! Sie werden hiermit zu 5 Jahren Haft in einem Zentrum für Umerziehung und Resozialisierung verurteilt! Zur Begründung: Die statistische Wahrscheinlichkeit für theoretische schwere Körperverletzung beträgt in Ihrem Fall 78,11 %!          

Die statistische Wahrscheinlichkeit für zukünftiges subversives Verhalten beträgt bei Ihnen 53,59 %! Weiterhin hat sich die Auswahl des Menüpunktes NEIN strafverschärfend auf Ihr Urteil ausgewirkt. Doch seien Sie unbesorgt. Es gibt mittlerweile zahlreiche staatliche Einrichtungen, in denen Menschen wie Sie bestens therapiert werden können, um wieder ein glückliches und angepasstes Leben in unserer humanistischen Gesellschaft führen zu können! Wir danken für Ihr Verständnis!“

Franks Glotzaugen bohrten sich in den Bildschirm und seine Ohren dröhnten. Die elektronische Frauenstimme hallte in seinem Kopf nach wie das Echo einer Atombombenexplosion. Sie wurde zu einem schleimigen Wurm, der sich durch die Ohrmuschel bis ins sein Gehirn vorwärts fraß.
„5 Jahre Haft ?!“ stammelte der Mann.
Frank versuchte, sich selbst zu erklären, dass ihn sein Gehör getäuscht hatte, aber es stand in grinsenden Buchstaben auch vor seinem Auge. Beide Sinne konnten sich leider nicht irren. Er war verurteilt. Es stimmte.
Noch in Schockstarre befindlich nahm der Angeklagte kaum wahr, als das elektronische Schloss hinter ihm einrastete und sich die Gerichtszelle automatisch versperrte. Die Verdammnis war verkündet worden und der Sack wurde zugeschnürt. In den ersten Minuten war Frank viel zu perplex, um ausrasten zu können. Die Verzweiflung in diesem frühen Moment war noch viel zu übermächtig, als dass sie Gefühlen wie Hass und Wut Raum geben konnte.
Für diesen Vorgang wurden Frank 411,66 Globes Verwaltungsgebühr von seinem Scanchip-Konto abgebucht, worauf ihn die Stimme noch hinwies. Er sollte sich jetzt weiterhin ruhig verhalten und warten, bis ihn die Polizeibeamten in seiner Gerichtszelle abholten und zu einem Transportfahrzeug begleiteten, verkündete der Computer. Bürger 1-564398B-278843 nahm diese weiteren Anweisungen nur noch emotionslos zu Kenntnis. Zu schwerwiegend war der Zustand der Betäubung. Erst eine halbe Stunde später raffte er sich kurz auf, um in seiner Verzweiflung zu weinen und zu schreien. Doch ihm fehlte die Kraft und so sank er schnell wieder zu Boden, kroch in eine dunkle Ecke und wartete.
„Vielleicht ist es auch nur ein Missverständnis? Es wird sich sicherlich aufklären lassen.“ flackerte es zeitweilig in seinem Verstand auf. „Ja, ich muss es den Beamten sagen. Sie sollen es noch einmal überprüfen. Der Computer muss sich geirrt haben."
Als sich zwei Polizisten der Gerichtszelle 4/211 etwa eine Stunde später näherten, hörten sie Frank schon von weitem lamentieren.
„Das ist mit Abstand der lauteste Typ heute morgen.“ sagte der eine hämisch.
„Ja, der hat ein beachtliches Organ!“ antwortete der andere.
Die stählerne Tür der dunklen Gerichtskammer öffnete sich und den zwei Polizisten bot sich ein trauriger Anblick. Aber es war kein Bild, das ihnen fremd war. Derartige Ausbrüche von Angeklagten nach automatisierten Gerichtsverfahren waren vollkommen normal und alltäglich. Sie holten sie den verurteilten Bürger ab...
 
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